Jana Vanecek

Neurodiversität – Ein Kontrast zu pathologisierenden Betrachtungsweisen von ADHS

Hoegrefe | Psychiatrische Pflege (2022), 7, pp. 7-8 | DOI: 10.1024/2297-6965/a000437 | Bei diesem Text handelt es sich um eine unkorrigierte Manuskriptversion. Der Lektorierte Text wurde publiziert unter: Vanecek, Jana | Neurodiversität: Ein Kontrast zu pathologisierenden Betrachtungsweisen von ADHS | Hoegrefe | Psychiatrische Pflege (2022), 7, pp. 7-8 | DOI: 10.1024/2297-6965/a000437

Im Alltag von Betroffenen wird ersichtlich, dass die Haltungen gegenüber ADHS in der Regel eher negativ sind. Dies bestätigt auch eine kürzlich publizierte systematische Übersichtsstudie. Einen differenzierteren und selbstermächtigenden Kontrast bietet das Konzept der Neurodiversität. Mit diesem Ansatz kann Neurodivergenz aus dem Bereich der Individualisierung von psychischen Problemen in den allgemeinen Bereich menschlicher Bedingungen und Lebensumstände überführt werden. Dies schafft mehr Verständnis und führt längerfristig auch zu besseren Lebensbedingungen für neurodivergente Personen.

Ich habe ADHS und es erstaunt mich immer wieder, dass das Thema heutzutage immer noch zu polarisieren vermag, obwohl ADHS bereits 1775 erstmals vom deutschen Arzt Melchior Weikart in der Fachliteratur beschrieben wurde (Barkley & Peters, 2012). Angeheizt durch eine oft einseitige Berichterstattung und regelmässig wiederkehrende Falschdarstellungen in den Medien konzentriert sich der öffentliche Diskurs hauptsächlich auf steigende Diagnosezahlen und die medikamentöse Behandlung von Kindern und Jugendlichen. Die Problematik dieser Tendenzen zeigt sich auch wenn ich das Thema bei diversen Menschen anspreche. Immer wieder erlebe ich, wie behauptet wird ADHS sei überdiagnostiziert. Einige tun ADHS als eine Modediagnose oder Erfindung der Pharmaindustrie ab. Manche sind erstaunt, dass eine erwachsene Person, die zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Kunsthochschule arbeitet von ADHS betroffen sein kann. Andere wiederum zeigen sich besorgt, da sie befürchten, dass eine Behandlung mit Stimulanzien meine Persönlichkeit verändern könnte und raten mir davon ab. Sie sind dann ganz erstaunt, wenn ich ihnen entgegne, dass ich in gewissen Situationen durchaus auf Stimulanzien zurückgreife, da diese für mich einen hilfreichen Spazierstock oder schützenden Regenschirm darstellen ohne mich zu betäuben.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Haltungen der Menschen gegenüber ADHS in der Regel negativ sind. Dies zeigt auch eine kürzlich publizierte systematische Übersichtsstudie auf (Bisset et al., 2022). Entweder wird die Existenz von ADHS negiert oder es wird von einem Defizitmodell ausgegangen, beim dem ADHS in erster Linie auf ein Problem reduziert wird, das gelöst werden muss. Letztendlich ist aber auch das Akronym ADHS nicht ganz unproblematisch. Denn ADHS-ler_innen besitzen kein Defizit an Aufmerksamkeit. Es handelt sich vielmehr um Fokussierungsprobleme, da die Betroffenen ihre Umwelt überdurchschnittlich intensiv wahrnehmen können. Die Komplexität von ADHS kann auch nicht auf die beiden Faktoren Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizit reduziert werden. Zudem enthält das Akronym die Begriffe Defizit und Störung. Das Akronym selber besitzt bereits ein grosses Stigmatisierungspotential und lässt zudem alle positiven Aspekte von ADHS völlig aussen vor.

Differenz statt Normalisierung

Einen Kontrast zu einer pathologisierenden oder stereotypisierenden Betrachtungsweise von ADHS bietet das Konzept der Neurodiversität. Im Allgemeinen wird der Begriff Neurodiversität Judy Singer zugeschrieben. Singer, eine autistische Soziologin, erörterte das Konzept erstmals in ihrer 1998 an der University of Technology, Sydney, veröffentlichten Thesis. Sie wollte ein Modell zur Stärkung von Autist_innen schaffen, das sich an Feminismus, LGBTQIA+ rights und Deaf Culture orientiert. Durch einen Vergleich mit dem Paradigma der Biodiversität, die entscheidend für die Stabilität eines Ökosystems ist, schlägt Singer vor, dass Neurodiversität entscheidend für eine kulturelle Stabilität sein könnte (Singer, 2017, S. 67). Bezugnehmend auf Singer vertritt auch die Neurodiversitätsbewegung die Vorstellung, dass „[…] Autismus, Legasthenie, Dyskalkulie, ADHS und Tourette als natürlich vorkommende Differenzen mit ausgeprägten Stärken betrachtet werden sollten, die zur Entwicklung von Technologie und Kultur beigetragen haben, statt sie als blosse Auflistung von Defiziten und Dysfunktionen zu behandeln.“ (Silberman & Sacks, 2016, S. 39-40)

Konzepte wie Normalisierung und «Heilung» werden innerhalb der Neurodiversitätsbewegung abgelehnt. Dies bedeutet aber nicht, dass Behandlungen bei Leidensdruck oder sekundären Begleiterkrankungen ausgeschlagen werden. Vielmehr wird die Ansicht vertreten, dass psychische Begleiterkrankungen, wie Depressionen oder diverse Formen von Angststörungen unbedingt als Reaktionen auf soziale Umwelterfahrungen, ökonomische Bedingungen und systemische Unterdrückungsmechanismen zu verstehen sind. Zu Recht bemerkt Jacquiline den Houting, eine Forscherin und Autismus-Aktivistin, dass Neurodivergenz in bestimmten Situationen durchaus zu einer Behinderung werden kann. Sie bezieht sich dabei aber auf das soziale Modell von Disability. Nach diesem Modell wird Disability als Ergebnis einer schlechten Passung zwischen den (körperlichen, kognitiven oder emotionalen) Merkmalen eines bestimmten Individuums und den Anforderungen seines sozialen Umfelds gesehen. Eine Person wird nicht durch ihre Beeinträchtigung behindert, sondern dadurch, dass ihr Umfeld nicht in der Lage ist, ihre Bedürfnisse zu erkennen und zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, die Behinderung resultiert nicht aus der Neurodivergenz selbst, sondern aus dem Leben in einer Gesellschaft, die dazu neigt, Neurodivergenten Personen gegenüber physisch, sozial und emotional ablehnend bis hin zu feindlich zu sein (den Houting, 2019).

Vielfalt, Selbstermächtigung und Inklusion

Nick Walker, eine queere, autistische, transgender Aktivistin und Professorin der Psychologie am California Institute of Integral Studies konkretisiert diesen Ansatz. Sie betont, dass Neurodiversität als eine Achse der menschlichen Vielfalt wahrgenommen werden muss. Wie alle anderen Formen der Menschlichen Vielfalt, beispielsweise die ethnische Vielfalt oder die Vielfalt des Geschlechts und der sexuellen Orientierung, ist auch Neurodiversität denselben sozialen Dynamiken unterworfen - einschliesslich der Dynamik sozialer Machtungleichheiten, Privilegien und Unterdrückung.  Walker hebt hervor, dass wir die Pathologisierung von Neurominoritäten als eine Form der systemischen Unterdrückung anerkennen müssen, die ähnlich funktioniert wie die Unterdrückung und der Ausschluss von anderen Minority Groups. (Walker & Raymaker, 2021) „Wenn wir Neurodiversität als eine Form menschlicher Vielfalt anerkennen und das Pathologie-Paradigma als eine Form systemischer Unterdrückung wie Rassismus oder Heterosexismus begreifen, ist es leicht zu erkennen, dass das Konzept eines «normalen Geistes» genauso absurd und von Grund auf unterdrückerisch ist wie die Vorstellung, dass weisse Menschen die «normale Rasse» sind oder dass Heterosexualität die einzige «normale» Sexualität ist. Und die Pathologisierung von Neurominoritäten […] als «psychische Störung» oder als medizinische «Kondition» - ist nicht mehr gültig und nicht weniger unterdrückend wie die Einstufung von Homosexualität als «psychische Störung»“ (Walker & Raymaker, 2021, S.6). 

Ich kann mich der Aussage von Walker nur anschliessen. Denn durch das Ablehnen von Konzepten wie Normalisierung und einen öffentlichen Diskurs, der nur im Sinne von „Nichts über uns ohne uns“ geführt werden sollte, kann Neurodivergenz aus dem Bereich der Individualisierung von psychischen Problemen in den allgemeinen Bereich menschlicher Bedingungen und Lebensumstände überführt werden. Dies würde nicht nur zur Entlastung von Betroffenen und ihrem nächsten Umfeld wie Eltern oder Partner_innen führen, es würde automatisch die Forderung eines breiten Spektrums politischer und sozialer Rechte miteinbeziehen. Abgestützt auf einen öffentlichen Diskurs, der nur im Sinne von „Nichts über uns ohne uns“ geführt werden sollte, führt dies zu einem besseren Verständnis sowie Selbstempowerment und längerfristig auch zu besseren Lebensbedingungen für neurodivergnete Personen.

Bibliographie

Barkley, R. A., & Peters, H. (2012). The Earliest Reference to ADHD in the Medical Literature? Melchior Adam Weikard’s Description in 1775 of “Attention Deficit” (Mangel der Aufmerksamkeit, Attentio Volubilis). Journal of Attention Disorders, 16(8), 623–630. https://doi.org/10.1177/1087054711432309

Bisset, M., Winter, L., Middeldorp, C. M., Coghill, D., Zendarski, N., Bellgrove, M. A., & Sciberras, E. (2022). Recent Attitudes toward ADHD in the Broader Community: A Systematic Review. Journal of Attention Disorders, 26(4), 537–548. https://doi.org/10.1177/10870547211003671

den Houting, J. (2019). Neurodiversity: An insider’s perspective. Autism, 23(2), 271–273. https://doi.org/10.1177/1362361318820762

Silberman, S., & Sacks, O. (2016). Neurotribes: The Legacy of Autism and the Future of Neurodiversity (Reprint Edition). Avery.

Singer, J. (2017). NeuroDiversity: The Birth of an Idea. Judy Singer (Selbstverlag). Lexington

Walker, N., & Raymaker, D. M. (2021). Toward a Neuroqueer Future: An Interview with Nick Walker. Autism in Adulthood. https://doi.org/10.1089/aut.2020.29014.njw